Deutschlands bekanntester Journalist, Ulrich Wickert, über Werte, die 68er, nationale Identität und sein neuestes Werk "Gauner muss man Gauner nennen"
Jörg Steinleitner: Ihr neues Buch heißt "Gauner muss man Gauner nennen". Was veranlasste Sie, dieses Buch zu schreiben?
Ulrich Wickert: Wo immer ich in den vergangenen zwei Jahren in Diskussionen um den Zustand der Gesellschaft einbezogen wurde, hatte ich das Gefühl, dass dieses Thema vielen Bürgern auf den Nägeln brennt. Und hinzu kam die zum großen Teil oberflächlich geführte Auseinandersetzung um die „deutsche Leitkultur“.
Jörg Steinleitner: Durften Sie während Ihrer gesamten Karriere stets die Dinge beim Namen nennen – oder ist dies nicht nur ein Privileg von Menschen, die eine gesicherte Position erreicht haben?
Ulrich Wickert: Es gehört sicherlich manches Mal Zivilcourage dazu, die Dinge beim Namen zu nennen. Aber ich habe die Erfahrung gemacht, wenn man die Formen wahrt, dann wird man häufig dafür respektiert, die Dinge benannt zu haben – selbst wenn einem manchmal auch der Wind ins Gesicht wehen kann.
Jörg Steinleitner: An welche Situation erinnern Sie sich, in denen auch Sie eine Sache nicht beim Namen nennen durften?
Ulrich Wickert: Als ich drei Wochen nach den Terrorattentaten vom 11. September 2001 einen Text der Inderin Arundati Roy aufnahm und die Denkstrukturen von George Bush und Osama Bin Laden verglich, da fiel fast ganz Deutschland über mich her. Die damalige Oppositionsführerin Angela Merkel forderte in der BILD-Zeitung TV-Verbot für mich. Und erstaunlicherweise haben die Kollegen nicht etwa den Eingriff der Politik in die Pressefreiheit verurteilt und die Meinungsfreiheit verteidigt, auch nicht die vom SPIEGEL, vom STERN oder anderen angeblich „progressiven“ Zeitungen wie TAZ oder FR, sondern sie haben alle gemeinsam auf mich eingeprügelt. Allein die Süddeutsche Zeitung und ein Kommentator der FAS nahmen mich in Schutz. Die Gefühlslage war damals noch zu intensiv, als dass sie solch eine Aussage erlaubt hätte. Inzwischen haben diesen Vergleich viele Menschen gezogen.
Jörg Steinleitner: Was ändert es, wenn man Gesindel als „Gesindel“ und Gauner als solche bezeichnet?
Ulrich Wickert: Erstaunlicherweise mögen Gauner nicht Gauner genannt werden. In seinen Vorlesungen über Erziehung, Moral und Gesellschaft hat der französische Pädagoge Emile Durkheim darauf hingewiesen, dass auch die gesellschaftliche Ächtung eines falschen Verhaltens zu den Elementen der moralischen Erziehung gehört. Wer also nicht Gauner genannt werden will, der sollte sich dann auch nicht wie ein Gauner verhalten.
Jörg Steinleitner: Sie prangern an, dass wir Menschen immer mehr auf Kosten anderer leben – durch Steuer- oder Versicherungsbetrügereien oder durch Inanspruchnahme von uns nicht zustehenden Sozialleistungen. Sie sehen darin einen Werteverfall. Aber war der Mensch nicht schon immer so veranlagt, seinen eigenen Vorteil zu suchen?
Ulrich Wickert: Ja, der Mensch wird egoistisch geboren. Sinn gesellschaftlicher Regeln ist es, den Egoismus einzudämmen zugunsten des Gemeinschaftsdenkens. Und dies wird nur dann funktionieren, wenn die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft die Regeln einhalten oder dafür kämpfen, dass auch die anderen sich danach richten.
Jörg Steinleitner: Wie groß ist der Anteil der sogenannten 68er an diesem Werteverfall?
Ulrich Wickert: Ich halte es für ausgesprochenen Quatsch, die sogenannten 68er als Verursacher der Werteverfalls zu bezeichnen. Sie haben ja zunächst auf die Verdrängung der Nazivergangenheit reagiert. Und wer war daran „schuld“? Jede gesellschaftliche Entwicklung hat ihre Ursachen. Von Schuldigen zu sprechen ist meines Erachtens hier nicht angebracht. Was die Schuld angeht, so empfehle ich gern immer wieder das Buch von Karl Jaspers „Die Schuldfrage“.
Jörg Steinleitner: In Ihrem Buch fordern Sie einerseits, die Dinge beim Namen zu nennen, andererseits fordern Sie Höflichkeit ein. Wie weit kann diese Höflichkeit gehen, ohne sich in Unehrlichkeit zu verwandeln?
Ulrich Wickert: Höflichkeit ist eine Frage des Respekts der anderen. Und natürlich wird man als höflicher Mensch nicht immer die „ganze“ Wahrheit sagen. Aber ich erinnere mich an ein Theaterstück, in dem ein Lügner die Wette mit seinen Freunden eingeht, er werde 24 Stunden lang nur die Wahrheit sagen. Die Wette wird abgeschlossen. Aber schon ganz schnell wollen alle davon abrücken, etwa als die Erbtante mit einem hässlichen Hut kommt ...
Jörg Steinleitner: Sie schreiben auch, dass die Kleiderordnung überdacht werden sollte. Was zeichnet einen besser gekleideten Menschen aus?
Ulrich Wickert: Ach nein, die Kleiderordnung muss nicht überdacht werden. Aber in manchen Fällen zeigt man anderen gegenüber seinen Respekt durch eine angemessene Kleidung.
Jörg Steinleitner: Wer ist in welcher Weise für die Verbesserung der von Ihnen aufgezeigten Umstände zuständig?
Ulrich Wickert: Da ich von der Idee des Gesellschaftsvertrags à la Rousseau ausgehe, sind alle Mitglieder einer Gemeinschaft für sich selbst und für den Zustand ihres Gemeinwesens verantwortlich.
Jörg Steinleitner: Können Sie auch positive Entwicklungen im gesellschaftlichen Leben in Deutschland beobachten?
Ulrich Wickert: In den letzten Jahren haben sich immer mehr Deutsche mit der Idee einer „nationalen Identität“ angefreundet. Und aus der Identität eines Volkes entwickelt sich auch der Umgang mit Werten. Wir brauchen also nicht zu verzweifeln.
Jörg Steinleitner: Herr Wickert, vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview wurde in Auszügen abgedruckt in buchSzene 2007/1. www.buchSzene.de
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