TEXTGRÖSSE:
Marcel BergmannZDF-Sportredakteur
Im Rollstuhl durch China


Der querschnittgelähmte ZDF-Sportredakteur Marcel Bergmann über die Reise seines Lebens


Jörg Steinleitner:  Herr Bergmann, in Ihrem Buch "Trotzdem China" beschreiben Sie Ihre Reise im Rollstuhl von Shanghai nach Peking. Haben Sie Verständnis dafür, dass jemand, der von dieser „Expedition“ hört, reflexartig denkt: „Der Mann muss verrückt sein.“?

Marcel Bergmann:  Klar, dafür hätte ich Verständnis. Aber manchmal kann ein bisschen Verrücktsein sicher nicht schaden. Und im Grunde war eine solche Reaktion ja auch unser Ziel. Denn wir wollten zeigen, dass weit entfernte, fast unerreichbar scheinende, eben „verrückte“ Ziele trotz allem möglich sind, wenn man sie mit aller Energie und Kraft anstrebt. "Trotzdem China", das große Reich der Mitte also trotz des Rollstuhls, erlebt und ins Herz geschlossen trotz einer schweren Behinderung, - einer Behinderung, die natürlich stark einschränkt und vieles unmöglich macht, die aber auf der anderen Seite doch noch Raum lässt für das Außergewöhnliche, für das Abenteuer und damit auch für lebendige Träume.

Jörg Steinleitner:  Wenn man Ihr Buch dann liest, wird man hin- und hergerissen – zwischen der Beschreibung dieser abenteuerlichen, aber schönen Reise und der Erzählung Ihres erschütternden Schicksals. Ist für Sie als Autor Ihr Buch eher ein Reisebuch oder ein Buch über Willensstärke und Zuversicht?

Marcel Bergmann:  Die Reise durch ein riesiges unbekanntes Land ist natürlich der chronologische rote Faden, der sich vom Anfang bis zum Ende durch das Buch zieht. Aber mir war sehr wichtig, dass ich nicht nur als Reisender, sondern auch als Rollstuhlfahrer für den Leser ein Profil bekomme. Das eine ist die abenteuerliche Reise, das andere die schwere Behinderung. Und die Hoffnung, die sich glücklicherweise erfüllt hat, war eben, dass diese beiden zueinander finden, dass Reise und Behinderung eine Einheit werden, und dass der Rollstuhlfahrer auch für den Leser immer mehr zum Reisenden wird.

Jörg Steinleitner:  Den Plan für Ihre China-Reise fassten Sie im Krankenhaus, in einer Situation, in der es Ihnen nicht gut ging. Was ist die Quelle Ihrer Willenskraft?

Marcel Bergmann:  Ein sehr engagierter Physiotherapeut, der mich in den ersten Monaten nach dem Unfall betreute, sagte mir immer wieder, dass sich „die wirklich wichtigen Dinge des Lebens im Kopf und im Herzen abspielen, und dass ich in Kopf und Herz auch mit der Behinderung noch genau so reich sein kann, wie ein unverletzter Mensch, vielleicht sogar noch reicher.“ Und was da anfangs für mich nicht mehr war als lästige Durchhalteparolen, wurde im Laufe der Rehabilitationszeit immer mehr zu einer inneren Wahrheit, dank der ich wieder Kraft schöpfte und Träume hatte. Letztes Endes gibt es in jedem Menschenleben wohl kaum etwas Wichtigeres als die Lust auf Zukunft. Und die hatte ich wiedergefunden.

Jörg Steinleitner:  Was meinen Sie: Geht alles, wenn man nur will?

Marcel Bergmann:  Nein, das wäre vermessen, so etwas zu behaupten. Dass auch trotz großen Einsatzes und trotz vollkommener Hingabe nicht immer ALLES funktioniert, hat jeder von uns schon öfter erlebt, als ihm lieb ist. Wenn man aber ALLES durch VIELES ersetzt, bekommt der Satz eine motivierende Wahrheit. Natürlich fand ich mich auch in China hin und wieder in Situationen wieder, die mir meine Grenzen aufzeigten. Da aber auf der anderen Seite trotz meiner Behinderung so vieles möglich war, gewann ich im Laufe der Reise ein immer größeres Selbstbewusstsein, ein tiefes Vertrauen in das Gelingen unserer Vorhaben. Und spätestens, als ich im Rollstuhl allen Hindernissen zum Trotz ganz oben auf der Chinesischen Mauer stand, war ein großer Traum Wirklichkeit geworden, der seine Erfüllung unter anderem sicher auch einem sehr starken Willen verdankte.

Jörg Steinleitner:  An welcher Stelle Ihrer Reise zweifelten Sie tatsächlich selbst an Ihrer Entscheidung, dieses zwischen mittelalterlichen und hochmodernen Lebensformen wechselnde Land ausgerechnet mit einem Rollstuhl zu bereisen?

Marcel Bergmann:  Den Zweifeln und Ängsten, die mich während der langen Vorbereitungszeit hartnäckig begleitet hatten, wurde glücklicherweise die Einreise nach China verweigert. Und so konnte vom ersten Tag in Shanghai an jede Unternehmung von einer unterschwelligen Euphorie begleitet werden, die alle einschränkenden Gefühle – und im Laufe der Reise auch den Rollstuhl - in den Hintergrund drängte.

Jörg Steinleitner:  Ihre Querschnittlähmung haben Sie sich bei einer anderen Fernreise durch einen schweren Autounfall zugezogen, bei dem auch Ihr Vater starb. Andere Menschen würden nach einer derartigen Erfahrung zu Hause bleiben. Wie gehen Sie mit Ihrer Angst auf Reisen um?

Marcel Bergmann:  Ich war schon vor dem grausamen Unfall in Kenia ein begeisterter Reisender, und mir war schon bald nach dem Aufwachen aus dem Koma klar, dass einem so etwas Schreckliches tagtäglich auch auf der A3 oder der B9 in Deutschland passieren kann. Deshalb kam es für mich nie in Frage, meine große Reiselust zu beerdigen. Im Gegenteil, sie gab mir wieder neue Ziele und Träume, die einer oft traurigen grauen Gegenwart wieder hellere Farben schenkten.

Jörg Steinleitner:  Wie haben Sie die Chinesen, denen Sie begegneten, empfunden?

Marcel Bergmann:  Ich habe auf dieser Reise fast durchweg liebenswerte und sympathische Menschen getroffen, die mich mit offenen Augen anschauten und die mir den Eindruck vermittelten, dass sie allen Einschränkungen zum Trotz gerne leben. Hinter diesen freundlichen Gesichtern glaubte ich mehr und mehr, eine starke innere Kraft zu erkennen, eine Lust zu leben, wie gesagt, die, anders als beispielsweise in Südamerika, nicht laut und euphorisch nach außen dringt, sondern die Körper und Seele mit einer starken, unter anderem sicher auch buddhistisch motivierten Balance im Innern stärkt. Beneidenswert, - und sicher auch nachdenkenswert, wenn zum Beispiel ein alter Mann in Lumpen gekleidet in einem verfallenen Hauseingang sitzt und dabei eine wärmende innere Zufriedenheit ausstrahlt, die den wohlhabenden Weltbürgern in ihrer modernen Luxusgesellschaft oft schon verlorengegangen ist.

Jörg Steinleitner:  Welches China-Erlebnis hat Sie am meisten überrascht?

Marcel Bergmann:  Es gab auf dieser Reise zahllose überraschende Momente, und davon lebt das Buch natürlich auch. Am meisten überrascht aber hat mich natürlich die Verwirklichung meines großen Wunsches, meines so oft schon geträumtes Traumes, im Rollstuhl ganz oben auf der Chinesischen Mauer zu sein und alle Behinderung auf dem Parkplatz vor dem Eingang unten zurückzulassen. Heute, Monate danach, weiß ich, dass es eines der intensivsten Erlebnisse meines Lebens gewesen ist.

Jörg Steinleitner:  Wenn Sie Ihre Reisen in Europa mit Ihrem China-Abenteuer vergleichen – was ist der größte Unterschied?

Marcel Bergmann:  China war unter den rund 60 Ländern, die ich bisher bereist habe, das erste, in dem mir jedes sprachliche Kommunikationsmittel fehlte. Auf der einen Seite war mir die Sprache inklusive ihrer Schreibweise ein ungelöstes Rätsel, und auf der anderen Seite konnte ich meine im Studium gelernten Weltsprachen allesamt im Koffer lassen, weil circa 99,9 Prozent der Chinesen kein Wort Ausländisch sprechen, mitunter sogar untereinander in der Unterhaltung an verschiedenen Dialekten scheitern. So etwas Ähnliches hatte ich zuvor nur in Italien erlebt, wo ich die Landessprache nicht beherrschte und der durchschnittliche Italiener, wenn überhaupt, dann ein Englisch artikulierte, das ich noch nie gehört hatte und also nicht verstand. In diesem Zusammenhang war es Chinas großer Vorteil, dass ich, anders als in Italien, die wahrscheinliche Sprachlosigkeit eingeplant hatte und für die Reise einen chinesischen Freund an meine Seite gewinnen konnte.

Jörg Steinleitner:  Sie haben die Reise Ihrer Träume verwirklicht. Was bleibt für Sie nun übrig als essentielle Erkenntnis für Ihr Leben?

Marcel Bergmann:  Es bleibt wohl vor allem die Erkenntnis, dass ich einen weiteren wichtigen Schritt gemacht habe, um mein Schicksal zu akzeptieren. „Trotzdem China“ hat mir sehr viel Mut und Zuversicht geschenkt, dass mein Leben, das Leben eines schwerbehinderten Rollstuhlfahrers, einen Wert hat, den ich selber durch gewagte abenteuerliche Unternehmungen weiter stärken und festigen kann. Der Rollstuhl wird ein Leben lang zu mir gehören, das weiß ich schon seit langem. Dass er dabei aber nicht immer nur ein Hindernis sein muss, war mir lange Zeit nicht klar. „Trotzdem China“, trotzdem Leben, trotz des Rollstuhls und mit dem Rollstuhl, - eigentlich doch wunderschön, dass das möglich ist, oder?!

Jörg Steinleitner:  Herr Bergmann, vielen Dank für das Gespräch.



Das Interview wurde abgedruckt in buchSzene 2008/1.

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