TEXTGRÖSSE:
Jürgen DollaseGeschmacksphilosoph und Genusspapst
Der Zustand der reinen Degustation


Geschmacksphilosoph und FAZ-Autor Jürgen Dollase über Sinnlichkeit, kulinarische Kompetenz und sein neuestes Werk – die „Kochuniversität“


Jörg Steinleitner:  Herr Dollase, Sie sind der „Gründer“ einer Kochuniversität in Buchform. Was genau können wir bei und mit Ihnen studieren?

Jürgen Dollase:  Im Gegensatz zu fast allen „normalen“ Kochbüchern geht es bei der Kochuniversität vor allem um das Verstehen kulinarischer Prozesse. Es geht um den Aufbau echter kulinarischer Kompetenz und nicht lediglich um das mehr oder weniger zufällige Nachkochen von Rezepten.

Jörg Steinleitner:  Dennoch: Kochbücher und -schulen gibt es wie Sand am mehr. Was genau ist anders am Studium bei „Professor Dollase“?

Jürgen Dollase:  Hier wird wirklich der ernsthafte Versuch unternommen, der Sache auf den Grund zu gehen und die Kochleistungen und das Geschmacksempfinden erheblich zu verbessern.

Jörg Steinleitner:  Kann man in der Kochuniversität auch ohne Abitur Erfolg haben? Kann jeder Mensch die Geschmäcker schmecken, die Sie als geübter Verkoster in Nahrungsmitteln entdecken?

Jürgen Dollase:  Ja. Das Wort „Universität“ habe ich vor allem benutzt, um auf das System der Kochuniversität hinzuweisen, das absolut bei Null beginnt und in sieben Stufen bis zu ziemlich anspruchsvollen kulinarischen Kreationen führt. Speziell der Aspekt des Schmeckens wird ebenfalls in einer neuartigen Weise angegangen. Neben den Erläuterungen zu Produkten, Rezepten und Kochtechniken gibt es jeweils Blöcke mit sensorischen Erläuterungen. Dort wird präzise erklärt, warum z.B. die Beachtung bestimmter Proportionen bei einem Salat für deutlich andere Qualitäten sorgen kann, als wenn man sie nicht beachtet.

Jörg Steinleitner:  Band 1, also quasi das 1. Semester, heißt "Tomate". Band 2 "Pasta" und Band 3 "Schwein". Weshalb diese merkwürdigen Titel? Lehren Sie im jeweiligen Band wirklich „nur“ über Tomate, Pasta und Schwein?

Jürgen Dollase:  Nein, Band 1 ist nicht das erste Semester. Jeder Band hat die Semester sozusagen in sich und führt von Stufe 1 bis Stufe 7 – jeweils am Beispiel eines anderen Produktes. Auf diese Weise kann man auf die oft sehr unterschiedlichen Interessen der Leser am besten eingehen. Im Band Tomate lernt man also kochen am Objekt Tomate. Dazu gibt es etwa 50 Rezepte und – der Leser wird vermutlich staunen, was da so alles zusammenkommt. Wer die jeweiligen Bände durchgearbeitet hat, versteht wirklich etwas von der Arbeit mit diesem Produkt, wie man es auswählt, handhabt und in den vielfältigsten Formen weiterverarbeitet und optimal einsetzt.

Jörg Steinleitner:  Sind weitere Bände geplant?

Jürgen Dollase:  Ja. Unsere Planungen sind sehr umfangreich.

Jörg Steinleitner:  Von Ferran Adrià sagen derzeit viele, er sei der beste Koch der Welt. Seine Gerichte entstehen im Labor. Er betreibt das Kochen auch als Wissenschaft, zerlegt Nahrungsmittel in ihre Bestandteile und setzt sie neu zusammen. Was halten Sie von ihm und was hat seine Art zu kochen mit Ihrer Kochuniversität gemeinsam?

Jürgen Dollase:  Adrià ist der Koch, der mehr als jeder Koch zuvor in einer bestimmten Richtung geforscht hat. In meiner Stufentheorie des Kochens wird deutlich, dass Adrià sich besonders der Erforschung der Aggregatzustände widmet, also um die texturellen Formen, die etwas annehmen kann – durch Trocknen, Pulverisieren oder die Herstellung von Eis, Schäumen, Gelees usw. Im Zusammenhang mit der Kochuniversität gibt es ganz selbstverständlich auch detaillierte Beispiele und Erläuterungen zu modernsten Techniken. Es gibt also z.B. beim Band "Tomate" eine Tomaten-Air, verschiedene Tomatengelees oder auch einen sehr trickreichen Tomatencocktail mit unterschiedlichen Gelee-Schichten. Das allerdings erst auf Stufe sieben, also im Bereich der komplexeren Kreationen.

Jörg Steinleitner:  Was wird beim Essen und Kochen am häufigsten falsch gemacht?

Jürgen Dollase:  Von mir werden Sie an diesem Punkt nichts von Fetten, Gesundheit oder anderen Dingen hören, mit denen man ansonsten oft einen positiven Zugang zum Essen blockiert. Das ergibt sich bei einem vernünftigen und sensiblen Umgang mit den Dingen von selber. In meiner Sehweise ist es beim Essen vor allem bedauerlich, wie wenig der Mensch seine unglaublich differenzierten Sinne für entsprechend spannende kulinarische Erfahrungen einsetzt. Beim Kochen ist das Hauptproblem, dass die meisten ohne Überlegung arbeiten und nur etwas nachahmen, was mehr oder weniger schlecht beschrieben in einem Rezept steht. Man muss beim Kochen durch den Aufbau von kulinarischer Kompetenz zum Herren des Verfahrens werden. Erst dann wird es wirklich besser und erst dann stehen buchstäblich so gut wie jedem erhebliche Möglichkeiten offen.

Jörg Steinleitner:  Weshalb spielt die Reihenfolge, in der wir die Nahrungsmittel auf unserem Teller essen, so eine große Rolle?

Jürgen Dollase:  Jedes kulinarische Objekt, das wir in den Mund nehmen, hat eine bestimmte Verlaufskurve. Manches ist von Anfang an sehr deutlich, zum Beispiel Eis und viele krosse Dinge. Manche Dinge erschließen sich aromatisch erst durch das Kauen, wie Fleisch zum Beispiel. Je nachdem, wie wir unsere Gabel oder unseren Löffel bestücken, sorgen wir durch die Proportionen für einen bestimmten „Akkord“ und durch die Wahl der Elemente auch für einen bestimmten zeitlichen Verlauf. Man kann insofern durchaus „falsch“ essen, als man durch das typisch unstrukturierte Verschlingen eigentlich gar nicht mitbekommt, was auf dem Teller an Qualitäten zu finden wäre. Mit zuviel Sauce kann man unter Umständen den Fleischgeschmack buchstäblich eliminieren. Andererseits lassen sich oft wunderbare Zusammenstellungen machen. Der Genuss kann also viel größer werden.

Jörg Steinleitner:  Sollte man bei einem wirklich feinen Essen nur über Essen sprechen, weil einem sonst die vielen schmeckbaren Nuancen verloren gehen? Wie gehen Sie selbst mit diesem „Problem“ um?

Jürgen Dollase:  Es ist nun einmal so, dass sich wildes Reden zwischen den Bissen über irgendwelche Themen und die Wahrnehmung von Essen im Gehirn quasi ausschließen. Wer redet – das ist mir selbst auch schon passiert – weiß nicht, was er isst – es sei denn, man spricht exakt über die jeweiligen Wahrnehmungen. Aber – es geht ja nicht darum, die ganze Zeit über das Essen zu reden – obwohl es bei wirklich sensiblen Essern da schon eine Menge zu erzählen gäbe. Wir reden von ein paar Minuten, in denen man isst und sich auf das Essen konzentriert. Wenn die Sensibilisierung da ist, ergibt sich das alles wie von selber. Bei einem Konzert hört man doch auch zu. Hören wir also dem Essen zu – sozusagen.

Jörg Steinleitner:  Zu Beginn Ihres Buches „Geschmacksschule“ zerlegen Sie einen Hamburger geschmacklich, um dann zum Wolfsbarsch zu wechseln Verstehen wir Sie dahingehend richtig, dass es Ihnen in der "Kochuniversität" nicht in erster Linie darum geht, Essen in gut und schlecht einzuteilen?

Jürgen Dollase:  Die Begriffe gut und schlecht kommen in der Tat so gut wie nicht vor, weil es hier nicht um „geschmäcklerische“ Dinge geht, sondern um die kulinarische Logik. Wer was mit wem kombiniert, kann ohne weiteres individuell bleiben. Ich möchte die kulinarische Freiheit erhalten, wiederherstellen oder zurückholen und einen Beitrag zur kulinarischen Emanzipation leisten. Was „gut“ ist, weil es einfach einer bestimmten Logik entspricht, ergibt sich allerdings durchaus. Es wird aber immer begründet und nicht – wie häufig – diktiert. Diese Logik ermöglicht in meinen Augen sehr vielfältige Formen von Küche.

Jörg Steinleitner:  Für viele Gourmets üben Sie einen Traumberuf aus – Gaumenphilosoph und Geschmackskolumnist für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und den Feinschmecker. Ursprünglich waren Sie mal beim Bundesgrenzschutz, dann Rockmusiker und studierten Kunst, Musik und Philosophie. Wie haben Sie den unglaublichen Sprung vom Grenzschützer zum Geschmacksschützer geschafft?

Jürgen Dollase:  Alles Zufall. Es gab in meinem Leben immer zufällige Zusammentreffen die zu völlig unvorhersehbaren Entwicklungen geführt haben. Die einzige Konstante ist vielleicht, dass ich mich in Kunst, Musik und Kochkunst immer mit etwas beschäftige, was auch einen praktischen/manuellen Aspekt hat. In die Rockmusik, die ich schließlich rund 13 Jahre in der Gruppe und noch einige Jahre hinter den Kulissen betrieben habe, hat mich einmal ein italienischer Bekannter gebracht. Zum Schreiben über Essen kam ich völlig zufällig und ohne jemals überhaupt daran gedacht zu haben. Ich war ein wirklich fanatischer Hobbykoch und habe mich einmal bei Johannes Gross über einen Text von ihm beschwert. Das habe ich so ausführlich und anscheinend speziell getan, dass er mir riet, doch in Zukunft über Essen zu schreiben. Wenig später erhielt ich ein Angebot von der FAZ.

Jörg Steinleitner:  Sie müssen allerhand probieren in ihrem Alltag. Gibt es irgendein Gericht oder eine Zubereitungsart, mit der man Sie „die Wände hinaufjagen“ kann?

Jürgen Dollase:  Nein. Ich esse alles und bin dafür zuständig, das Essen vernünftig einzuordnen.

Jörg Steinleitner:  Würden Sie uns zustimmen, wenn wir sagen, dass Essen etwas ähnlich Sinnliches wie die Liebe ist – inwiefern?

Jürgen Dollase:  Der Zusammenhang ist tatsächlich sehr groß und sehr gut vergleichbar. In beiden Fällen gibt es Stumpfsinn und höchste Sensibilität. Der Zusammenhang zwischen Körperlichkeit, Empfindsamkeit und sinnlicher Wahrnehmung scheint mir beim Essen allerdings noch vielfach nicht annähernd ausgeschöpft zu sein. Ich benutze übrigens für einen besonders intensiven Zustand beim Essen den Begriff „Zustand der reinen Degustation“. Er meint die vollständige Konzentration der Sinne auf die sinnliche Wahrnehmung und die Verschmelzung von sinnlicher Wahrnehmung und Emotion.

Jörg Steinleitner:  Frühstücken Sie und wenn ja was?

Jürgen Dollase:  Brot, Käse und Kaffee – alles eher wenig.

Jörg Steinleitner:  Wer ist aus Ihrer Sicht der größte Koch aller Zeiten – und weshalb?

Jürgen Dollase:  Aus meiner sehr differenzierten Sicht der Kochkunst kann sich eine solche Klassifizierung kaum ergeben. Es gibt aber Namen, die mit bestimmten Entwicklungen und Fähigkeiten verbunden sind und die man unbedingt zu den ganz Großen zählen muss. Dazu gehören z.B. Paul Bocuse, Alain Chapel, Alain Ducasse, Fredy Girardet, Michel Bras und vor allem Joel Robuchon, der vielleicht der beste Kenner der Kochtechnik aller Zeiten ist. Natürlich gehört auch Ferran Adrià in diese Liste, allerdings eben nicht unbedingt als universeller Koch.

Jörg Steinleitner:  Was werden Sie heute noch essen?

Jürgen Dollase:  Ich habe gestern von unterwegs etwas aus einem italienischen Feinkostgeschäft mitgebracht, also diverse Schinken und Würste etc. Das gibt es heute Abend, zusammen mit meinen selbstgebackenen Spezial-Brötchen. Als Nachtisch haben wir noch Chocolats - „Pralinen“ – von Pierre Marcolini aus Brüssel.

Jörg Steinleitner:  Herr Dollase, wir wünschen Ihnen guten Appetit!



Das Interview wurde in Auszügen abgedruckt im Magazin "Lebenslust und Gaumenfreuden" als Teil der buchSzene. www.buchSzene.de 2006/3

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