TEXTGRÖSSE:
Anne ChapletKrimiautorin
Jede Menge Liebe und kriminelle Energie


Anne Chaplet erhielt für ihre Romane mehrfach den Deutschen Krimipreis. Mit Jörg Steinleitner spricht sie über SMS Botschaften, Goethe, das Alter, Kinder, kriminelle Phantasie und ihren neuesten Krimi "Sauberer Abgang".


Jörg Steinleitner:  Frau Chaplet, für Ihren neuesten Roman "Sauberer Abgang" haben Sie sich Frankfurt als Schauplatz ausgewählt. Was zeichnet diese Stadt aus mörderischer, aber auch aus sonstiger Sicht aus?

Anne Chaplet:  Ach, Frankfurt am Main selbst ist ja gar nicht so mörderisch, auch wenn die Polizeistatistik „Mainhattan“ immer wieder als kriminellen Mittelpunkt ausweist – was aber eher daran liegt, dass auch alles, was mit dem internationalen Rhein-Main-Flughafen verbunden ist, in die Statistik einfließt. Oder sämtliche Kreditkartenbetrügereien, weil die meisten Kreditkartenausgeber in Frankfurt gemeldet sind. Frankfurt ist sogar eine ziemlich gemütliche Stadt – und wird zugleich, dank seiner prächtigen Skyline, immer schöner...

Jörg Steinleitner:  Frankfurt ist eine Stadt der Kontraste …

Anne Chaplet:  … ja, es ist die Stadt der Banken und der Ebbelweigemütlichkeit; die Stadt der Weltoffenheit und der kleinen verschworenen Szenen und Milieus. Aus diesen Kontrasten wächst Spannung – geradezu naturgemäß!

Jörg Steinleitner:  In "Sauberer Abgang" wird es selbst zum Akteur.

Anne Chaplet:  Seine Geschichte der letzten 25 Jahre, insbesondere die Entstehungsgeschichte der Skyline, spielt mit. Damit ist der Roman vielleicht mein persönlichstes Buch geworden: ich habe 1981 direkt hinter einer Großbaustelle gewohnt, auf der zwei der prägendsten Hochhäuser Frankfurts entstanden: die Spiegeltürme der deutschen Bank.

Jörg Steinleitner:  Ein „urbaner Loser“ und Ex-Lokalzeitungsredakteur und eine Putzfrau mit abgebrochenem BWL-Studium namens Dalia Sonnenschein, die wir beide sofort in unser Herz geschlossen haben, stehen im Zentrum des Krimis. Beschreiben Sie mit diesen beiden Charakteren die Gesellschaft der Gegenwart?

Anne Chaplet:  Unsere soziale Gegenwart ist mehr und mehr bestimmt von dem, was man prekäre Existenz nennen könnte: ein Leben in Unbeständigkeit und Unsicherheit. Übrigens ist auch bei den anderen in meinem Buch, den scheinbar avancierten Personen, nicht alles Gold: der erfolgreiche Restaurantbesitzer steht kurz vor der Pleite und der Staatsanwalt lässt sich von der Liebe zu seiner verwöhnten Frau zu riskanten Finanzmanövern verführen. Aber ich male kein düsteres Szenario, im Gegenteil: meine beiden Hauptfiguren Will und Dalia zeigen, wie man sich in Zeiten wie diesen durchs Leben schlagen kann, mit Phantasie, Würde und – tja: auch ein bisschen krimineller Energie ... In der Stadt der Banken weiß man schließlich, dass die Alternative zum Bankraub nicht nur die Gründung einer Bank ist. Aber mehr über Dalias Überlebensstrategien will ich nicht verraten.

Jörg Steinleitner:  Ihr Held Will Bastian wird von seiner Freundin Vera unter Druck gesetzt, Kinder zu kriegen. Er will nicht, also fordert sie ihn auf, sich sterilisieren zu lassen, damit er nicht in ein paar Jahren mit einer anderen Frau ein Kind bekommt. Ein faires Vorgehen?

Anne Chaplet:  Was ist schon fair in der Liebe? Aber im Ernst: mich berührt eher die Bitterkeit der Frau, die begreift, dass ihr Liebster Ausflüchte macht und die fürchtet, dass es mangelnde Liebe ist, die ihn vor einem Kind zurückschrecken lässt. Man stelle sich einmal vor: er, der mit der angeblich so aussichtslosen Lage der Welt begründet, warum er keine Kinder zeugen möchte, tritt ihr ein paar Jahre später gegenüber mit dem Kind einer anderen Frau auf dem Arm – dann, wenn es für Vera zu spät ist ... Das ist nun einmal etwas, das Frauen besonders weh tut, die nicht bis ans Ende ihrer Tage Kinder kriegen können.

Jörg Steinleitner:  „Kindermangel in Deutschland“ ist derzeit das Top-Thema in Deutschland. Wie stehen Sie selbst zu Kindern und dieser Diskussion?

Anne Chaplet:  Man weiß oft erst hinterher, worüber man sein Buch „eigentlich“ geschrieben hat. Irgendwie scheint "Sauberer Abgang" ein Beitrag zur aktuellen Debatte zu sein – sozusagen eine flankierende Maßnahme zu Schirrmachers „Methusalemkomplott“ und „Minimum“ auf belletristischer Ebene ... Aber ganz im Ernst: mich wundert ein bisschen, dass bei der Frage nach dem Kindermangel in Deutschland nur die Motive der Frauen seziert werden und sich niemand fragt, was eigentlich mit den Männern ist. Mein Romanheld Will Bastian wirkt wie einer dieser typischen Männer, die hochtrabende Argumente für ihre ganz persönliche Schwäche finden: in diese Welt der Unsicherheit könne man keine Kinder setzen angesichts von Kriegen, Tschernobyl, dem Waldsterben, der Klimakatastrophe ... Alles Ausflüchte, natürlich, an die niemand mehr glaubt – und die sich unzählig viele Frauen schon haben anhören müssen. – Ja, ich auch.

Jörg Steinleitner:  Dennoch hat auch Will Bastian ein paar durchaus ernstzunehmende Motive für seine „Verweigerung“.

Anne Chaplet:  Und die haben mit dem eigenen Verhältnis zum Vater und zu den hergebrachten Selbstverständlichkeiten zu tun, denen zufolge jeder Mensch etwas hinterlassen will, für die Ewigkeit. Will aber hat seine eigenen Schlüsse aus der Vergangenheit gezogen: er will nichts hinterlassen, sich nicht verewigen, niemandem und nichts seinen Stempel aufdrücken, schon gar nicht einem Kind. Er ist eine Gestalt, die ganz der Gegenwart gehört – und insofern keine Zukunft hat. Aber er hat eine Vergangenheit, von der er geprägt ist, eine Vergangenheit die den Hintergrund des Buchs darstellt. Auf einer zweiten Zeitebene spielt "Sauberer Abgang" im schicksalhaften Jahr 1981 ...

Jörg Steinleitner:  In der Folge zieht Will aus – ausgerechnet zu seinem 82-jährigen Vater. Damit ist dem arbeitslosen Sohn geholfen, er wohnt kostenlos – und dem Vater auch, er ist nicht mehr einsam – ist das nicht ein perfektes Modell zur Versöhnung der Generationen und zur Lösung des wachsenden demographischen Problems, vor allem unter dem Aspekt, dass es immer mehr unzufriedene Singles und pflegebedürfte Alte gibt?

Anne Chaplet:  Ob das ein empfehlenswertes Modell ist, was Will und Karl Bastian da ausprobieren, weiß ich nicht – sie sind ja Romanfiguren und in einem Roman geht es nicht um sozialpolitische Modelle. Umfragen besagen übrigens, dass es durchaus die Alten sind, die ihre Autonomie ungern aufgeben zugunsten des Zusammenlebens mit Söhnen und Töchtern. Und wenn schon zu Hause ein Pflegedürftiger versorgt wird, dann von den Ehefrauen und Töchtern ... Also insofern ist es spannend, sich das Zusammenleben ausgerechnet von Vater und Sohn zuzustellen! Aber es ist richtig, dass mich der Aspekt der Versöhnung mit dem einst nicht sehr geliebten Vater beschäftigt hat – aber mindestens ebenso die Gestalt des alten Karl Bastian selbst, der schon Züge jener „neuen Alten“ trägt, die eben nicht vor allem pflegebedürftig und weltfremd sind, sondern in vieler Hinsicht lebenszugewandter, ja glücklicher und zufriedener sind als ihre Kinder, vor allem die in dem so schwierigen Alter zwischen 30 und 40. Und das gewiss nicht nur, weil die Rente der Alten noch sicher ist ...

Jörg Steinleitner:  Manchmal empfindet Will seinen Vater auch als schwach: „so nachgiebig, so durchlässig, so verletzbar?“ – Wie wird man, wenn man älter wird? Wie beurteilen Sie in dieser Hinsicht die Zukunft Ihrer eigenen Generation?

Anne Chaplet:  Ich erlebe bei meinen alten Eltern eine gewisse Altersmilde – und obwohl ich so weit noch nicht bin: auch bei mir stelle ich einen gewissen Hang zur Nachsicht mit menschlichen Fehlern fest bei zugleich wachsender Ungeduld mit menschlicher Dummheit. Ob „meine“ Generation für ihre Altersmilde berühmt werden wird, kann ich selbstredend nicht beurteilen. Ich kann mir aber vorstellen, dass die heute zwischen 50 und 60 Jahre alten Zeitgenossen sich ganz besonders hervortun werden in der Weigerung, alt zu werden. Erwachsen sind wir schließlich bis heute noch nicht.

Jörg Steinleitner:  „Man gibt sich nicht für einen Mann auf, basta“, sagt sich Karen Stark. Wie sehen Sie das?

Anne Chaplet:  Man gibt sich für niemanden auf. Auch nicht für eine Frau.

Jörg Steinleitner:  Entweder keine Liebe oder eine unglückliche – das scheint Karen Starks Grundmelodie des Lebens zu sein. Was sagen Sie den vielen Menschen, die genau dieses Gefühl plagt?

Anne Chaplet:  Ich glaube, Karen Stark ist ein gutes Rollenvorbild für alle, die gerne eine Liebesbeziehung hätten, aber keine finden: sie geht ihrem Beruf nach und hat Freunde. Sie gibt sich eben nicht auf. Was man an ihr kritisieren könnte, ist ihr Hang zum Grübeln, zum Misstrauen anderen Menschen und dem Geliebten gegenüber. Eine deformation professionelle? Oder liegt das auch daran, dass mit einem Menschen wie ihr ein „einfaches“ Beziehungsmodell mit klaren Erwartungen und Gewissheiten nicht funktionieren würde? Insofern passt sie gut zu ihrem Freund, einem Rechtsmediziner, dem sein Beruf ebenfalls über alles geht. Und natürlich ist Karen der Antipode zu Vera, Will Bastians Freundin. Sie möchte weder Mutter noch Ehefrau sein, sondern Geliebte und Freundin zugleich, Verbündete eben. Viele gut ausgebildete Frauen leiden darunter, dass es nur wenige Männer zu geben scheint, die eine solche gleichberechtigte Beziehung der „klassischen“ vorziehen würden. Was mir an der Beziehung zwischen Karen und Gunther übrigens besonderen Spaß gemacht hat, ist die Frage, wie das Mobiltelefon das Leben von Liebenden verändert. Theoretisch könnte man heutzutage immer einen „Draht“ zueinander haben. Praktisch aber verstärkt das Mobiltelefon die Unsicherheit über das Leben des anderen: ist er wirklich dort, wo er behauptet zu sein? Oder steckt er ganz woanders, bei einer Geliebten, zum Beispiel? Und was macht die Möglichkeit kleiner elektronischer Berührungen per SMS mit unserer Geduld? Früher musste man auf den Postboten warten. Heute ist Warten zumindest technisch nicht mehr nötig.

Jörg Steinleitner:  Wills Eltern liebten sich schon nach drei Begegnungen, liebten sich über Jahre hinweg, ganz offenbar ohne ihre Erfüllung, ohne einen Kuss, es war eine Liebe, die nur auf Worten gründete. Will beneidet seinen Vater deswegen. – Was war damals anders als heute, dass dies möglich war?

Anne Chaplet:  Ich weiß gar nicht, ob sich die beiden tatsächlich nach so kurzer Zeit schon liebten. Mein Gedanke war eher, dass sie ihre Liebe erfunden haben – über einen langen Zeitraum hinweg, in dem sie sich nur per Post nahe sein durften, weil Krieg war. Die Worte der Liebe sind der Liebe vorausgegangen. Das ist für mich eine faszinierende Vorstellung, an die ich im Übrigen glaube. Nichts macht Liebe schöner – und „wirklicher“ - als ihre Beschwörung. Nebenbei: Die Geschichte von Karl und Marga Bastian fußt auf dem Kriegsbriefwechsel meiner Eltern, die sich zehn Jahre lang nur schreiben konnten, abgesehen von ein paar Wochen Fronturlaub. Sie haben sich ihre Liebe erfunden, in hunderten von Briefen, in Stunden voller Gedanken an den anderen. Was damals anders war? Es war Krieg. Der ist den Jüngeren gottlob erspart geblieben. Und dennoch frage ich mich, ob Paare eine solche Geduld mit- und füreinander heute noch aufbringen würden. Zehn Jahre warten auf den Geliebten? Ist das nicht mittlerweile utopisch?

Jörg Steinleitner:  Karen kommuniziert mit ihrem Liebhaber Gunther sehr viel über SMS. Ist die SMS eine geeignete Form, einen Dialog der Liebe zu führen?

Anne Chaplet:  Ach, ich finde Emails und SMS ganz wunderbar. SMS-Botschaften sind die moderne Form der billets doux im 21. Jahrhundert. Mich jedenfalls erinnern diese kleinen Berührungen an die Zettel und Briefchen, die sich Frau von Stein und Goethe im 18. Jahrhundert in Weimar täglich mehrmals haben zukommen lassen – natürlich nicht elektronisch übertragen, sondern durch laufende Boten. Aber ändert das was am Inhalt? Solche Berührungen können eine Beziehung verzaubern – zugegeben: besonders zauberhaft ist es, wenn man sie heimlich empfängt und heimlich versendet. Und warum sollte man sich Liebesbriefe nicht per Mail schicken? Auch hier ändert der elektronische Weg nicht notwendigerweise den Inhalt. Was sich geändert hat, ist der Zeithorizont: auf Emails muss man nicht mehr warten wie früher auf den Briefträger. Vielleicht mehrt das die Ungeduld, die bei Liebenden eh besonders ausgeprägt ist. Jedenfalls bei denen, die das „sie konnten zueinander nicht kommen, das Wasser war viel zu tief“ nie kennengelernt haben.

Jörg Steinleitner:  „Haltet die Welt an“ – dieser Spruch aus dem Jahr 1981, der Zeit der Demos gegen die Startbahn West in Frankfurt und andere politisch aufgeladene öffentliche Projekte – ist der Grund für mehrere Morde und Tote in Ihrem Buch. Warum haben Sie diese beiden Ideen – die Idealistische und die Mörderische miteinander verknüpft?

Anne Chaplet:  Für mich ist der Spruch „Haltet die Welt an – ich möchte aussteigen“ ganz und gar unpolitisch, es ist der Ruf der Romantiker, aller Romantiker. Tatsächlich ist "Sauberer Abgang" kein Politthriller, sondern die Geschichte eines verzauberten „Sommers der Liebe“, dem ein schweres Gewitter folgt. Es ist die Geschichte einer Gruppe junger Männer, die in heißen Sommernächten am Baggersee eine Art magische Bindung aneinander entwickeln – eine Bindung, die verstärkt und zugleich gefährdet wird, als eine Frau ins Spiel kommt. Der Rückblick auf das Jahr 1981 gibt dieser amour fou Resonanz und zeigt zugleich, wie stark das Private das Politische dominierte. Sie handelt im Grunde von der Weigerung, sich den politischen Ereignissen zuzuwenden.

Jörg Steinleitner:  Wäre es nicht auch heute manchmal nötig, die Welt anzuhalten? Wie und in welcher Hinsicht würden Sie es als besonders wichtig ansehen?

Anne Chaplet:  Und die Moral von der Geschicht’? Es gibt keine. Vielleicht geht es in diesem Roman noch am ehesten um die Verstrickungen, in die uns die Liebe führt: die Liebe zwichen Freunden, die Liebe zwischen Vater und Sohn, die furchtsame Liebe, die furchtbare Liebe. Es sind nicht die großen Dinge, die uns bewegen, sondern die Fäden, die das Private um uns spinnt. Und nicht nur die Liebe, auch ihre Schwestern, der Hass und die Rachsucht, sind dauerhafter, als Menschen sich in jungen Jahren vorstellen können. Man sollte achtsam sein mit den Wunden, die man als junger Mensch empfängt und den Wunden, die man schlägt, denn Narbengewebe fängt an zu schmerzen, wenn man in die Jahre kommt ... Aber wer denkt daran schon, wenn er 23 ist? Aber das wäre vielleicht mehr Moral, als ein Unterhaltungsroman vertragen kann ...

Jörg Steinleitner:  Frau Chaplet, vielen Dank für das Gespräch!



Das Interview wurde in Auszügen abgedruckt im KrimiMagazin 2006. www.buchSzene.de

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