TEXTGRÖSSE:
Veit HeinichenSchriftsteller
Schönheit, Schmuggel, Sklaverei


Die Romane des deutschen Schriftstellers Veit Heinichen, Jahrgang 1957, wurden bei der Vergabe des Premio Franco Fedeli in Bologna mehrfach zu den drei besten italienischen Krimis gewählt. Demnächst werden sie sogar für die ARD verfilmt.


Jörg Steinleitner:  Herr Heinichen, die meisten Deutschen, die nach Italien auswanderten, zog es in der jüngeren Vergangenheit an den Gardasee oder in die Toskana. Sie leben wie Ihr sympathischer Kommissar Laurenti in Triest – was hat Sie dorthin verschlagen?

Veit Heinichen:  Eine Geschichte, die vor über 25 Jahren begonnen hat. Aus Neugier bin ich damals zum ersten Mal hier her gekommen, weil ich wissen wollte, was sich hinter diesem großen Namen verbirgt, den die Stadt trägt. Und weil ich die Stadt der Dichter sehen wollte: Joyce, Svevo, Saba, Rilke, Casanova, Stendhal, Burton etc. Dass ich aber später hierher umzog war damals noch nicht vorherzusehen. Über die Jahre aber wurde dieser besondere Ort in Europa zum festen Bezugspunkt in meinem Leben und ich damit zum Pendler. Ein Zustand, den man ein paar Jahre lang leben kann, sich dann aber für einen einzigen Ort entscheiden muss. Ich war bereits lange in die Triestiner Gesellschaft integriert, als ich schließlich diesen Schritt vollzogen habe.

Jörg Steinleitner:  Aus welchen Gründen siedelten Sie auch Ihren Kommissar in dieser Stadt an?

Veit Heinichen:  Kein Ort in Europa verfügt über mehr Grenzen als Triest. Direkt oder über den Seeweg steht die Stadt täglich mit über zwölf Ländern in Verbindung. Sie ist ein Schnittpunkt Europas, der Übergang zwischen der mediterranen Welt und der des Nordens, des Balkans und Westeuropa, Meer und Berg, Kommerz und Kultur. Dazuhin wurde Triest einst in friedlichem Zusammenleben von über 90 Ethnien geschaffen. Dies ist der Prototyp der europäischen Stadt – auch in vielerlei anderer Hinsicht. Kommissar Proteo Laurenti, der Protagonist meiner Bücher, hat mit all dem zu tun: Schmuggel jeglicher Art, Korruption, Geheimdienste, Menschenschleuserei, Organhandel, Neue Sklaverei. In einigen dieser Gebiete leitet die Staatsanwaltschaft Triest tatsächlich die Ermittlungen in Italien und steht in Verbindung mit den anderen europäischen Kollegen. Kommissar Laurenti hat die klassische Karriere eines italienischen Polizisten in dieser Position absolviert. Auch diese ist genau recherchiert. Eine Jury aus Staatsanwälten, Polizisten und Literaturkritikern hat meine Werke bei der Vergabe des „Premio Franco Fedeli“ in Bologna wegen ihrer Authentizität bereits zweimal unter die drei besten italienischen Kriminalromane des Jahres gewählt.

Jörg Steinleitner:  Ein Taxifahrer sagt in Ihrem neuen Roman "Der Tod wirft lange Schatten" von den Triester Frauen, dass die "doch schon emanzipiert waren, als die Frauen im Rest Europas noch nicht alleine in Lokale gehen durften." Stimmt das, und falls ja, woran liegt das?

Veit Heinichen:  Ich kann nur raten, die Romane Italo Svevos wieder zu lesen, die vor fast hundert Jahren geschrieben wurden. Dort sind diese Frauen bereits eingehend porträtiert. Ja, in dieser von Anbeginn an laizistischen Stadt war der Einfluss kirchlicher Moral weniger machtvoll als im Rest Europas. Triestinerinnen hatten schon früh ein eigenes Selbstbewusstsein und vor allem einen eigenen Kopf. Sie waren schon immer für ihren Stolz und auch für ihre Schönheit bekannt, und wurden dafür auch in vielen Werken der Weltliteratur gepriesen. Der junge Sigmund Freund, der in Triest seine erste wissenschaftliche Abhandlung verfasste, war sehr von ihnen beeindruckt, hatte aber keinen Mut, sich ihnen zu nähern. Sein Biograph Peter Gay schrieb: „Er gestatte sich, an den jungen Frauen von Triest interessiert zu sein. Das Interesse war allerdings, wie seine Briefe vermuten lassen, distanziert, rein akademisch. Er verriet eine gewisse Angst vor den Lockungen der sinnlichen ‚italienischen Göttinnen’, die er auf seinen Spaziergängen sah, sprach von ihrer Erscheinung und von ihren Schönheitsmitteln und hielt sich von ihnen fern.“

Jörg Steinleitner:  Europa ist ein immer wieder aufflackerndes Thema in Ihrem raffiniert konstruierten Werk. Laurentis Assistent sieht die EU als eine Institution, die immer mehr zur "Lobbyisten-Vereinigung verkommt". An anderer Stelle bezeichnet ein Spezialagent Triest als "Tor zum Balkan", als "Nabel der Welt". Das Projekt Europa sei von der Mafia mit Krieg, Schmuggel, Geldwäscherei, Menschenschleusungen und Waffenhandel schon weit früher umgesetzt worden als von der Politik. Wie stehen Sie persönlich zu Europa?

Veit Heinichen:  Ach, Europa: Was für ein schöner Gedanke, den zu verfechten es sich lohnt. Was allerdings in Brüssel geschieht, erschreckt. Bürgerfern werden in den Kommissionen und im Parlament Entscheidungen getroffen, die das Leben nicht unbedingt bereichern. Die Normierungen von Traktorsitzen und Präservativen, Kartoffeln und landwirtschaftlicher Anbauverfahren scheint in der Tat eher lobbystarken Industrieunternehmen zu nutzen, nicht aber den Bürgern, die zwar zum Wählen gebraucht werden, aber ansonsten eher zu stören scheinen. Hier liegt eine immense Gefahr, das Projekt Europa mutwillig zu zerstören und damit die einzigartige Möglichkeit, ein friedliches Zusammenleben unter Respektierung der Unterschiedlichkeit zu zerstören. Diversität ist Reichtum, sie darf nicht reduziert werden.

Jörg Steinleitner:  Dass Schriftsteller sich auch zu gesellschaftlichen Zuständen äußern ist etwas aus der Mode gekommen. Hören wir den Autor Veit Heinichen sprechen, wenn Laurenti sich Sorgen macht über gesellschaftliche Existenzängste, immer stärker werdenden ökonomischen Druck und das Auseinanderklaffen der sozialen Schere? Sehen Sie für sich als Autor eine soziale Verantwortung oder ziehen Sie sich auf den Standpunkt des Künstlers und Unterhalters zurück?

Veit Heinichen:  Der Autor ist immer ein Unterhalter, wenngleich auf höchst unterschiedliche Weise. Es stimmt aber nicht, dass die Beschreibung sozialer Zusammenhänge aus der Mode gekommen ist. Der Roman war schon immer ein brillanter Spiegel seiner Zeit, einer Epoche. Denken wir an „Verbrechen und Strafe“ von Dostojewski zum Beispiel, oder an „33 Augenblicke des Glücks“ von Ingo Schulze, um nur ein Werk der Gegenwartsliteratur zu nennen. Der Autor ist Teilnehmer und Beobachter zugleich. Mich selbst interessiert die Welt, in der ich lebe, über alles. Die Ängste verändern sich seit geraumer Zeit und bestimmen das Handeln der Menschen. Seit vor über zwanzig Jahren damit begonnen wurde, den sozialen Kontrakt immer mehr aufzulösen und sich die soziale Schere immer weiter öffnet, veränderte sich auch das geistige Klima in Europa. Das bleibt nicht ohne Einfluss auf das Individuum. Ein guter Roman weiß davon zu erzählen.

Jörg Steinleitner:  Ihr Roman ist ungeheuerlich detailreich. Wie kommen die vielen Fakten in Ihr Buch?

Veit Heinichen:  Intensive Recherche geht allem voran. Für das neue Buch habe ich mich mehr als sieben Jahren damit beschäftigt und mit unzähligen Zeugen gesprochen. Außerdem hatte ich die Unterstützung des Gerichtspräsidenten, der mir den Zugang zum Archiv ermöglichte, sowie die des Polizeipräsidenten, der mir den Zugang zu Polizeiakten ermöglichte. Desweiteren wurde ich über zwei Jahre lang von einem Fernsehteam der RAI, des italienischen Fernsehen, begleitet, das alle meine Gespräche aufzeichnete und daraus eine eineinhalbstündige Dokumentation über das Entstehen dieses Buches machte. Auch verfüge ich natürlich über ein immenses eigenes Archiv, doch nichts ersetzt das Gespräch mit allen Gruppen: Wir, die wir so gerne wegschauen, dann die Ermittler, die Opfer – sofern sie zum Sprechen zu bewegen sind – und die Täter, die meist gerne viel reden. Ich bin von einem der neun ungelösten Mordfälle Triests der letzten fünfzig Jahre ausgegangen – und wieder einmal tat sich der gesamte europäische Background auf: die Vermischung von Politik und organisiertem Verbrechen, die Rolle der Geheimdienste ...

Jörg Steinleitner:  Vom Mikrokosmos des Ermittleralltags Laurenti und seiner angenehm chaotischen Familie wechseln Sie souverän zur großen Weltpolitik und umreißen mit wenigen Sätzen globale Szenarien von Politik und Verbrechen – fühlen Sie sich geehrt, wenn wir Sie bei allem Europäertum, das wir in Ihrem Werk genießen, auch an Thriller-Meister wie Forsyth denken?

Veit Heinichen:  Vielen Dank! Wie könnte man ein solches Kompliment zurückweisen. Aber, um eines gleich vorweg zu nehmen: Ich habe keine literarischen Vorbilder.

Jörg Steinleitner:  Laurenti fischt mit der Harpune, geht täglich schwimmen – wie weit weg vom Meer wohnen Sie vom Meer und – sind Sie auch mit der Harpune unterwegs?

Veit Heinichen:  Triest ist eine Stadt, die mit und vom Meer lebt. Auch wenn es von meinem Haus nur ein paar Schritte zum Strand sind, gehe ich nicht fischen. Aber rudern. Ein phantastischer Sport, mit dem man sich rundum fit halten kann und, der auf dem Meer betrieben, weniger langweilig ist, als es jeglichem Sport sonst zu eigen ist. Es bereitet mir aber manchmal auch Vergnügen, mit der Kettensäge im Garten zu arbeiten.

Jörg Steinleitner:  Des Kommissars Kinder sorgen mit Liebschaften und illegalen politischen Aktionen für Wirbel – seine Frau traktiert ihn mit großen Grillgelagen. Haben Sie selbst Kinder und eine Frau, die Sie ebenso kreativ auf Trab halten?

Veit Heinichen:  Ich lebe mit einer Triestinerin zusammen, die einem ganz anderen Beruf nachgeht und ihren ganz eigenen Kopf hat. Mit Proteo Laurenti habe ich nur zwei Dinge gemeinsam: Er kommt, wie ich, von außen, und manchmal begegnen wir uns in einer Bar. Ansonsten sind wir Arbeitskollegen.

Jörg Steinleitner:  Zwei ältere Herrschaften spielen in "Der Tod wirft lange Schatten" eine gewieft-gewitzte Rolle – der pensionierte Rechtsmediziner Galvano ermittelt nicht ohne Erfolg auf eigene Faust und die über 70-jährige Stefania Sefanopoulos hilft jungen Tierschützern bei ihren nächtlichen Aktionen – ein Plädoyer für die Forderung, die wir nun immer häufiger hören, dass die Gesellschaft aktive Alte unbedingt braucht?

Veit Heinichen:  Ich halte keine Plädoyers und habe keine Mission! Es geht auch hier wieder um Authentizität. Der Ort, also Triest mit seiner Umgebung, ist in meinen Büchern keine Kulisse, sondern Protagonist mit seiner eigenen Biographie. Kein aktuelles Ereignis kann stattfinden, ohne dass zuvor etwas anderes passiert ist. Diese beiden älteren Herrschaften verkörpern gelebte Geschichte. Und ein bisschen schrullig sind sie mit dem Alter allerdings auch geworden.

Jörg Steinleitner:  Ihre Romane sollen verfilmt werden. Können Sie uns bereits Genaueres erzählen?

Veit Heinichen:  Die Dreharbeiten werden in diesem Herbst beginnen. Katharina Trebitsch wird meine Bücher für die ARD verfilmen, worüber ich sehr glücklich bin. Denn die Produzentin hat sie genau verstanden und auch Triest. Auch haben mir viele Menschen bereits ihre Begeisterung darüber mitgeteilt, daß es endlich einmal Verfilmungen mit einem ganz besonderen Drehort geben wird. Aber das Drehbuch wollte ich nicht schreiben, das ist ein anderes Metier. Ich will mich nicht wiederkäuen, sondern originäre, neue Stoffe schreiben. Eine Kleinigkeit allerdings würde mir Vergnügen bereiten: Wie Hitchcock in jedem Film einmal für ein paar wenige Sekunden im Hintergrund aufzutauchen.

Jörg Steinleitner:  Herr Heinichen, vielen Dank für das Gespräch.



Das Interview wurde in Auszügen abgedruckt in "Krimi. Das Magazin für Wort und Totschlag" 2005.

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