TEXTGRÖSSE:
Thomas SteinfeldLiteraturchef der Süddeutschen Zeitung
"Ein überwältigender Erfolg"


Das ThaliaMagazin sprach exklusiv mit Thomas Steinfeld, dem Literaturchef der Süddeutschen Zeitung, über die SZ-Bibliothek – ein in Deutschland einzigartiges Projekt.


Jörg Steinleitner:  Herr Steinfeld, Ihre Zeitung hat nun eine eigene Bibliothek. Herzlichen Glückwunsch zu diesem Luxus! Ändert sich dadurch Ihr Verhältnis zu Büchern oder Ihre alltägliche Arbeit für die "Süddeutsche"? Betrachten Sie nun jedes neu gelesene Buch auch unter dem Aspekt: Wäre das nicht was für unsere SZ-Bibliothek?

Thomas Steinfeld:  Der überwältigende Erfolg der SZ-Bibliothek offenbart doch, dass es sich bei diesen Büchern nicht um Luxus handelt. Vielmehr scheinen wir ein Bedürfnis zu erfüllen, von dessen Größe auch wir kaum etwas geahnt haben: Die Deutschen wollen lesen, und zwar nicht nur die Bücher, die gerade erschienen sind. Sie wollen auch die wichtigsten Werke der Vergangenheit kennen, und bei diesen kann man sich angesichts dieses Erfolgs schon fragen, ob die Klassiker bislang in der besten Form präsentiert worden sind. Und was den Stellenwert des Buches innerhalb der Zeitung betrifft: Wir vom Literaturressort waren immer schon der Meinung, dass er nicht hoch genug angesiedelt werden kann, und wir freuen uns, dass der Rest der Zeitung nun allen Grund hat, dieses Verhältnis genauso zu sehen. Unser Leseverhalten ändert sich dadurch wenig, denn in der SZ-Bibliothek werden ja keine Neuheiten aufgenommen. Hingegen überlegen wir uns schon, welche Bücher uns in der Vergangenheit besonders angerührt oder begeistert haben.

Jörg Steinleitner:  Wie kam die Auswahl der ersten 50 Titel zustande, die von süffiger internationaler Spannungsliteratur wie Umberto Ecos "Der Name der Rose" bis zu deutschen Klassikern wie die "Deutschstunde" von Siegfried Lenz oder Hermann Hesses "Unterm Rad" reicht? Gibt es Kriterien, die jedes Buch der SZ Bibliothek erfüllen muss?

Thomas Steinfeld:  Nicht alle literarischen Verlage in den deutschsprachigen Ländern haben uns ihre Rechte für die SZ-Bibliothek zur Verfügung gestellt. Wenn jemand Thomas Mann oder Vladimir Nabokov, Virginia Woolf oder Ingeborg Bachmann vermisst, so liegt das daran, dass wir mit einem beschränkten Fundus arbeiten mussten. Wir haben uns dann die Backlists der betreffenden Verlage angesehen und in mehreren Durchgängen einen Auswahl zusammengestellt. Dabei haben wir es nie auf einen Kanon abgesehen. Vielmehr wollten wir eine deutlich von persönlichen Vorlieben geprägte Liste wichtiger Bücher haben, die zu den vermeintlich besten Büchern gerne in einem zuweilen etwas schrägen, angerauhten, gespannten Verhältnis stehen sollte. Milan Kunderas "Die unerträgliche Leichtigkeit" des Seins etwa ist ein gutes Buch, aber es gehört vermutlich nicht zu den literarisch bedeutendsten Werken des 20. Jahrhunderts. Doch ist der Roman in eine enge Verbindung zur Zeitgeschichte gerückt: Er ist das Buch über das Ende des Prager Frühlings. Solche Verbindungen sind prägend, sind interessant, reizen zum Wiederlesen.

Jörg Steinleitner:  Steckt hinter der Reihenfolge, in der die Bücher erscheinen, ein System?

Thomas Steinfeld:  Wir haben bei der Auswahl in beschränktem Maß auf Jahreszeiten und Gedenktage geachtet, zum Beispiel erscheint ein Joyce in enger zeitlicher Nachbarschaft zum Bloomsday, der hundertsten Wiederkehr des Tages, an dem der "Ulysses" spielt. Aber das gilt nicht für alle Bücher der Bibliothek.

Jörg Steinleitner:  Inwiefern spielten – dem Feuilleton wohl eher fremde – Verkaufsargumente eine Rolle?

Thomas Steinfeld:  Es ist ein Irrtum, dass Verkaufsargumente für ein Feuilleton keine Rolle spielen: Wenn Hunderttausende, ja Millionen von Menschen ein Buch lesen wollen, wird ein gutes Feuilleton fragen, warum das so ist. Oft ist es dann so, dass man lernt, warum das künstlerisch Schlichte etwas sehr Interessantes bergen kann. Wir sind keine Oberlehrer. Das Populäre muss seinen Platz haben.

Jörg Steinleitner:  Es ist davon auszugehen, dass "Der englische Patient" von Michael Ondaatje mehr Leser finden wird als Claude Simon "Die Akazie". Wurde trotzdem von jedem Titel die gleiche Auflage gedruckt? Wie hoch sind Auflagen?

Thomas Steinfeld:  Über die Höhe der Auflagen kann ich keine allzu genauen Angaben machen. Aber es gibt natürlich Bücher, bei denen wir von vornherein wussten, dass sie weitaus weniger bekannt sind als andere, womöglich sogar erfolgreich verfilmte. Die "Akazie" ist ein gutes Beispiel dafür: ein großartiges, überwältigendes Buch, das seine Leser nie in der Zahl gefunden hat, wie sie eigentlich angemessen gewesen wäre. Jetzt freut es uns ganz außerordentlich, wenn dieses unterschätzte Buch einmal auch in den Verkaufszahlen in die Nähe der bekannten Bestseller rückt.

Jörg Steinleitner:  Sie und Ihre SZ-Autoren besprechen die Werke der jeweiligen Woche. Die ersten beiden Rezensionen waren von der Tendenz her objektiv und porträthaft – werden sich die Rezensenten in den weiteren Besprechungen bewusst mit einer Wertung zurückhalten?

Thomas Steinfeld:  Alle Bücher der SZ-Bibliothek hat es zuvor schon in anderer Form auf dem Buchmarkt gegeben. Die Ankündigungstexte können deswegen keine Rezensionen sein, sondern sind Buchvorstellungen, Präsentationen. So wird das auch weitergehen.

Jörg Steinleitner:  Die Bücher gehen zu einem sensationell günstigen Preis über den Ladentisch. Wir vom Thalia-Magazin freuen uns darüber, denn obwohl jeder unserer Autoren die meisten Bücher schon hat, ist man sich einig, dass man sich diese schönen bibliophilen Bände gerne nochmals ins Regal stellen möchte. Aber bewegt Sie als Buchliebhaber nicht die Sorge, dass der Preis von 4,90 Euro pro Buch die Leser glauben lassen könnte, Literatur sei nichts wert?

Thomas Steinfeld:  Es ist, glaube ich, für jeden potenziellen Leser erkennbar, dass es sich bei den Büchern der SZ-Bibliothek nicht um Novitäten handelt, dass die meisten dieser Bücher zuvor schon im Hardcover wie im Taschenbuch vorgelegen haben. Wenn sie jetzt noch einmal erscheinen, dann ist das nicht anders, als würde der Reclam Verlag ein Werk als Klassiker in seine gelbe Reihe aufnehmen – nur, dass in unserem Fall ein sehr viel edleres Produkt vorliegt. Niemand macht dem Reclam Verlag den Vorwurf, das Preisgefüge zu zerstören – warum soll man ihn der SZ-Bibliothek machen? Hier tritt etwas zum gewöhnlichen Buchmarkt hinzu, ohne gleichzeitig etwas zu zerstören.

Jörg Steinleitner:  Welches ist Ihr persönlicher Lieblingsband?

Thomas Steinfeld:  Die Suche nach geeigneten Titeln für die SZ-Bibliothek war mit einer Reihe von Überraschungen, ja sogar Entdeckungen verbunden – mit Büchern, die man zwar zu kennen glaubte, die man aber doch nicht so genau im Gedächtnis hatte und die sich dann als phänomenal entpuppten: Somerset Maughams "Der Magier" war für mich ein solcher Fall, spannender als jeder Krimi, absurd und schwarz wie die Nacht.

Jörg Steinleitner:  Haben Sie etwas dagegen, wenn wir einige der Bücher gar nicht lesen werden, sondern nur anschauen, weil Sie so schön sind?

Thomas Steinfeld:  Nein, nein, bitte sehr. Ich hatte auch nicht gewusst, was unser Art Director außer Zeitungmachen noch so alles kann.

Jörg Steinleitner:  Herr Steinfeld, vielen Dank für das Gespräch.



Das Interview wurde abgedruckt im ThaliaMagazin 2004/II.

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